ETH-Professorin: „Auch mit einer Lehre führt der Weg an die Hochschule“

Ursula Renold begann mit einer KV-Lehre – heute lehrt sie an der ETH Zürich. Ihr Werdegang zeigt die Durchlässigkeit des Schweizer Bildungssystems.

Sie plädiert für weniger Leistungsdruck, mehr Selbstbestimmung und ein Umdenken bei Eltern, die das Gymnasium als einzigen Weg zum Erfolg sehen.

Dem Schweizer Bildungssystem sei Dank, ist ein Hochschulabschluss auch dann noch möglich, wenn ein junger Mensch seine berufliche Laufbahn mit einer Lehre startet. Ich bin das beste Beispiel dafür. Meine Schulmotivation als 15-Jährige war mehr als bescheiden, und ich entschied mich für eine kaufmännische Lehre – heute bin ich Professorin an der ETH.

Ein solcher Wechsel zwischen verschiedenen Bildungspfaden ist heute sogar noch einfacher als damals, weil das Schweizer Bildungssystem mittlerweile so durchlässig ist wie in keinem anderen Land. Sekundarschule, Berufslehre, Berufsmatura, Fachhochschule, Universität: Dieser Bildungsweg ist möglich und hat sogar Vorteile.

Die Expertin

Ursula Renold ist Professorin für Bildungssysteme am Departement für Management, Technologie und Ökonomie an der ETH Zürich. Sie hat ihre berufliche Laufbahn mit einer kaufmännischen Lehre gestartet, weil sie als 15-Jährige keinen Bock auf Schule hatte.

Die überfachlichen Kompetenzen zum Beispiel werden je länger je wichtiger. Ein Unternehmen will Arbeitnehmende einstellen, die flexibel einsetzbar sind, um jederzeit und schnell auf Veränderungen reagieren zu können. Die Soft Skills, die es dazu braucht, erwerben junge Menschen vor allem dann, wenn sie während ihrer Ausbildung Berufserfahrung sammeln können – und nicht unbedingt im Hörsaal. Dies ist eine Erkenntnis einer kürzlich publizierten Studie meiner Forschungsgruppe.

Ich und meine Kolleg:innen machen diese Erfahrung auch mit ETH-Studierenden. Haben sie nicht den gymnasialen Weg gewählt, sondern jenen über die Berufsbildung, stehen sie zu Beginn des Studiums an einem anderen Punkt, haben einen anderen Erfahrungsschatz, stellen andere Fragen. Die verschiedenen Bildungswege der Studierenden sind sehr bereichernd für alle.

Auch eine funktionierende Wirtschaft braucht eine Vielzahl an unterschiedlichen Arbeitnehmenden. Der Schweizer Arbeitsmarkt ist geprägt von mittleren und kleinen Unternehmen, und in diesen KMUs, insbesondere in der Industrie, ist der Bedarf an Personen mit Hochschulabschluss sehr gering. Ein Hochschulabschluss ist – zumindest in der Schweiz – schon lange keine Versicherung für ein erfolgreiches Berufsleben mehr.

Anderseits sind Akademikerinnen und Akademiker ein wichtiger Treiber von Forschung und Innovation. Neues Wissen zu schaffen, ist ein zentraler Rohstoff der Schweiz. Und es gibt durchaus Jugendliche, die gerne zur Schule gehen, wissenshungrig und am Gymnasium am richtigen Ort sind.

Ich sehe aber auch junge Menschen, die von ihrem Umfeld mit Nachhilfebatterien bestückt werden, um die Gymi-Prüfung zu bestehen. Doch damit ist es nicht getan: Es folgt ein harter, langer Weg bis zum Hochschulabschluss, der geprägt sein kann von Misserfolgen und Minderwertigkeitsgefühl. Das hindert diese jungen Menschen daran, einen gesunden Selbstwert zu entwickeln, der für die Entfaltung – auch des intellektuellen Potenzials – der Heranwachsenden so wichtig wäre.

Um in ihrer Entwicklung gestärkt zu werden, brauchen Jugendliche Freiräume und die Möglichkeit, selbstbestimmte Entscheidungen treffen zu können. Druck haben sie schon genug. Nicht alle Heranwachsenden haben beispielsweise die Pandemie gut verkraftet. Die sozialen Medien sind eine weitere Herausforderung. Kommt ein kaum erfüllbarer Leistungsdruck vom Umfeld dazu, kann dies junge Menschen überfordern.

Eltern, die selber den gymnasialen Weg durchlaufen haben oder aus einem Land stammen, wo die Berufsbildung in eine Sackgasse führt, fehlt vielleicht das Wissen über die Vorzüge des Schweizer Bildungssystems. Ich aber bin überzeugt: Wenn Eltern ihr Kind nicht auf das Gymnasium schicken, verbauen sie ihm nicht die Zukunft, sondern ermöglichen ihm womöglich erst dadurch eine zufriedene, selbstbestimmte und erfolgreiche Laufbahn. In meinen Augen ist das der Kern einer erfolgreichen Karriere.

 

Quelle: ETH Zürich
Bildquelle: ETH Zürich

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